Das HASAG-Außenkommande in Colditz
Von November 1944 bis April 1945 bestand im Südwerk der Steingutfabrik Colditz AG ein von der HASAG betriebenes jüdisches Außenkommando des KZ Buchenwald. Unmittelbar vor Kriegsende wurden die KZ-Häftlinge zusammen mit dem Außenkommando „RAW Jena“ auf einen Todesmarsch nach Theresienstadt/Terezin geschickt. Zu mindestens 64 Todesfällen unter den 718 Gefangenen kam es allein während der Zeit des KZ. Die Opfer des Todesmarsches aber sind ungezählt.
Rückwirkend zum 1. November 1944 trat zwischen der Steingutfabrik Colditz AG (Aktie) und der Leipziger Hugo-Schneider-AG (HASAG) ein Pachtvertrag in Kraft, der „entsprechend den Weisungen der zuständigen Stellen […] auf dem Wege einer beiderseits im besten Einvernehmen geführten Verhandlung“,(1) unter anderem den Einsatz von KZ-Häftlingen in Colditz vorsah. Für die Aktie, die bis dahin jegliche Einmietung von Rüstungsfirmen aus verschiedensten Gründen zu umgehen versucht hatte, ein durchaus lohnendes Geschäft, denn die HASAG zahlte die Pacht – im Voraus – nicht nur für einige Räume, sondern für das gesamte Südwerk.
Damit begann das letzte Kapitel Colditzer Stadtgeschichte im Nationalsozialismus: So wie es zu Beginn der NS-Herrschaft in Colditz ein Konzentrationslager gegeben hatte, wurde nun, einige Monate vor der endgültigen Niederlage des Regimes, erneut ein KZ in der Stadt errichtet – und es gab noch eine weitere Parallele: Wolfgang Plaul, der seine Karriere bei der SS im KZ Schloss Colditz begonnen hatte, war als Kommandoführer aller Außenkommandos der HASAG oberster Dienstherr der SS-Wachmannschaft in Colditz.
Die HASAG hatte sich seit 1933 von einem Lampenhersteller zu einem der größten Rüstungsunternehmen im Dritten Reich entwickelt. Neben der Herstellung von Munition war ihr Hauptprodukt die „Panzerfaust“. Im Zweiten Weltkrieg waren Panzer eine der Hauptwaffen bei der Kriegsführung, für die es anfänglich keine Abwehrwaffe gab. Die von der HASAG entwickelte Panzerfaust schloss diese Lücke. Je kritischer die Lage für Deutschland wurde, umso dringender wurde der Bedarf für die panzerbrechende Waffe.
1944 musste die HASAG jene polnischen Werke wieder räumen, die sie zu Kriegsbeginn übernommen hatte. Die Munitionswerke in Skarżysko-Kamienna, Cęstochowa (Tschenstochau) und anderen polnischen Städten wurden leergeräumt, Arbeiter, Maschinen und Material nach Deutschland gebracht. Die bis dahin in werkseigenen Lagern der HASAG untergebrachten jüdischen Zwangsarbeiter wurden dem KZ Buchenwald zugeteilt, später wieder in den Werken in Leipzig, Taucha, Altenburg, Meuselwitz und Schlieben eingesetzt und in den dortigen Lagern interniert.
Rückwirkend zum 1. November 1944 trat zwischen der Steingutfabrik Colditz AG (Aktie) und der Leipziger Hugo-Schneider-AG (HASAG) ein Pachtvertrag in Kraft, der „entsprechend den Weisungen der zuständigen Stellen […] auf dem Wege einer beiderseits im besten Einvernehmen geführten Verhandlung“,(1) unter anderem den Einsatz von KZ-Häftlingen in Colditz vorsah. Für die Aktie, die bis dahin jegliche Einmietung von Rüstungsfirmen aus verschiedensten Gründen zu umgehen versucht hatte, ein durchaus lohnendes Geschäft, denn die HASAG zahlte die Pacht – im Voraus – nicht nur für einige Räume, sondern für das gesamte Südwerk.
Damit begann das letzte Kapitel Colditzer Stadtgeschichte im Nationalsozialismus: So wie es zu Beginn der NS-Herrschaft in Colditz ein Konzentrationslager gegeben hatte, wurde nun, einige Monate vor der endgültigen Niederlage des Regimes, erneut ein KZ in der Stadt errichtet – und es gab noch eine weitere Parallele: Wolfgang Plaul, der seine Karriere bei der SS im KZ Schloss Colditz begonnen hatte, war als Kommandoführer aller Außenkommandos der HASAG oberster Dienstherr der SS-Wachmannschaft in Colditz.
Die HASAG hatte sich seit 1933 von einem Lampenhersteller zu einem der größten Rüstungsunternehmen im Dritten Reich entwickelt. Neben der Herstellung von Munition war ihr Hauptprodukt die „Panzerfaust“. Im Zweiten Weltkrieg waren Panzer eine der Hauptwaffen bei der Kriegsführung, für die es anfänglich keine Abwehrwaffe gab. Die von der HASAG entwickelte Panzerfaust schloss diese Lücke. Je kritischer die Lage für Deutschland wurde, umso dringender wurde der Bedarf für die panzerbrechende Waffe.
1944 musste die HASAG jene polnischen Werke wieder räumen, die sie zu Kriegsbeginn übernommen hatte. Die Munitionswerke in Skarżysko-Kamienna, Cęstochowa (Tschenstochau) und anderen polnischen Städten wurden leergeräumt, Arbeiter, Maschinen und Material nach Deutschland gebracht. Die bis dahin in werkseigenen Lagern der HASAG untergebrachten jüdischen Zwangsarbeiter wurden dem KZ Buchenwald zugeteilt, später wieder in den Werken in Leipzig, Taucha, Altenburg, Meuselwitz und Schlieben eingesetzt und in den dortigen Lagern interniert.
Das HASAG-Außenlager auf dem Gelände der Steingut AG
Die polnischen Juden, welche die HASAG für sich beanspruchte, waren aber nicht die ersten Buchenwald-Häftlinge in Colditz. Zunächst wurden für die Umbauten des Werksgeländes Bauarbeiter gebraucht. Dazu wurden in Buchenwald unter ungarischen Juden Arbeitskräfte ausgesucht und unter der Führung deutscher „grüner“, also krimineller Häftlinge nach Colditz gebracht. Am 29. November 1944 trafen die ersten 100 KZ-Häftlinge in Colditz ein. Drei Tage später kamen die nächsten 50, am 6. Dezember 1944 150 weitere ungarische Juden nach Colditz. Sie wurden, wie im Vertrag festgehalten, im „Hochbau“ untergebracht. Zu ihren Aufgaben gehörte es, das Südwerk mit Stacheldraht einzuzäunen und Wachtürme aufzustellen, ebenso der Aushub einer Latrinengrube im Freien. Die im Werk vorhandenen Toiletten durften von den KZ-Häftlingen nicht benutzt werden. Bis zum Februar 1945 blieb die Belegung des Lagers relativ konstant, auch weil 61 arbeitsunfähige und kranke Häftlinge nach Buchenwald zurückgeschickt und durch 60 neue ersetzt wurden.
Etwa drei Wochen nach Beginn des Arbeitseinsatzes starb in Colditz der erste Häftling. Er und sieben weitere ungarische Juden, die bis zum 21. Februar 1945 starben, waren schon vor der Jahrhundertwende geboren und gehörten somit zu den Älteren unter den Gefangenen. Auch wenn die genauen Todesursachen für diese Fälle nicht überliefert sind, geben sie doch Auskunft über die Arbeits- und Lebensbedingungen im Lager, zu denen unter anderem Sonntags ein sogenanntes Hindernisrennen der Häftlinge gehörte. Dabei wurde während der von der SS zur Belustigung veranstalteten Rennen, auf die Häftlinge geschossen.
HASAG und SS waren personell eng verflochten, und es war nicht immer klar, wer eigentlich auf der Baustelle Regie führte. Das bekamen auch die Häftlinge zu spüren. Der ungarische Journalist Endre György war von Beginn an im Lager Colditz. Bei seinem Arbeitseinsatz in einer Colditzer Sandgrube erlebte er dies so: „Der Deutsche wusste nicht nur alles, er wusste auch alles besser. Abstoßend und unerträglich ist diese Eigenschaft. Die SS-Burschen, die mit unserer Bewachung betraut waren, mischten sich auch in die Arbeit ein. Sie wollten immer „leiten“. Dabei kümmerten sie sich nicht um die Anweisungen unseres Vorarbeiters. Sie wussten es besser. 'Warum fasst du die Schaufel so an, und nicht so. Wenn Du den Sand von der Schaufel wirfst, warum kratzt das so? Du musst das leiser machen.'“2
Trotz der chaotischen Umstände auf der Baustelle wurde bis Mitte Februar 1945 ein Stand erreicht, der es erlaubte, die in Tschenstochau abgebauten Maschinen nach Colditz zu bringen und aufzustellen. Zeitgleich traf am 21. Februar 1945 ein Transport mit weiteren 350 polnischen Juden in Colditz ein.
Das bedeutete nicht nur einen Baufortschritt, sondern schlagartig eine weitere Verschlechterung der Situation der Häftlinge im Lager. Untergebracht wurden die Neuen im obersten Stockwerk des umfunktionierten Hochbaus. Die Gesamtlebensmittelzuteilungen für das Lager mussten dadurch erhöht werden. Gemäß den in den KZ herrschenden „Gesetzen“ brachte dies aber keine Verbesserung für die Häftlinge, sondern führte zu neuen Verteilungskämpfen zwischen den rivalisierenden Häftlingsgruppen. Endre György berichtete: „Der Lagerälteste war ein ehemaliger Spelunkenwirt aus Berlin; einer der Blockältesten war ehemaliger Rausschmeißer aus demselben Milieu. Acht oder zehn Jahre lebten sie schon hier und alle Verwerflichkeit der 'Lagermoral' klebte an ihnen. Beispielgebend an niedriger Gesinnung, Egoismus und Raffgier wirkten sie wie Apostel der Leichenschändung. Sie stahlen den größten Teil der so schon dünnen Ration. Mit Hilfe eines haardünnen Drahtes teilten sie ein Margarinestückchen von 25 Gramm. Sie nahmen sich auch Marmelade und Salat. Wir erhielten jeweils nur einen Löffel davon zum Abendbrot. Ihr nicht vorhandenes Gewissen belastete es keineswegs, dass sie uns damit in Krankheit, Unterernährung und Tod trieben.“3
Tatsächlich griff der Tod weiter um sich: Der erste polnische Häftling starb schon in der ersten Woche nach der Ankunft in Colditz. Auch die Behandlung durch Wachpersonal und zivile Vorgesetzte verschärfte sich nach Ankunft der polnischen Juden weiter. Das zeigte sich im Fall von Tibor Makk, geboren am 14. September 1927 in Budapest. Niemand konnte den genauen Grund angeben, die einen sprachen von einem Lebensmitteldiebstahl, die anderen davon, dass Makk wegen Erschöpfung eine Pause machte. Jedenfalls fiel er einem SS-Mann auf, und alle im Südwerk beschäftigten KZ-Häftlinge mussten am 19. März 1945 antreten, um zu erfahren, wie mit „Dieben“ und „Arbeitsscheuen“ umgegangen wird. Nach Verkündung der Bestrafung wurde Makk unter der Leitung des SS-Mannes von anderen Häftlingen abgeführt. – Mit einer zu einer Bahre umfunktionierten Leiter kamen die Häftlinge einige Zeit später mit dem Erschossenen zurück ins Lager. Die Leiche wurde, wie fast alle Opfer des Außenlagers, an der Außenseite der Friedhofsmauer des evangelischen Friedhofs in Colditz begraben.
Auch polnische Überlebende des HASAG-Lagers in Colditz beschrieben Misshandlungen durch Aufsichtspersonal. Ihre Peiniger waren jene Mitarbeiter der HASAG, die sie schon aus Tschenstochau kannten. Zumeist schlugen diese Mitarbeiter Häftlinge, um sie zu schnellerem Arbeiten anzutreiben. Oder sie wurden Opfer der SS-Wachmannschaft. Szyja Kogutek, der als KZ-Häftling in Colditz war, sagte aus, dass sein Bruder Jakob durch einen Bajonettstich in den Bauch starb. Täter war in diesem Fall der SS-Kommandoführer. Der Nachweis dieses Mords in Colditz ist schwierig, da Jakob Kogutek nicht in den Transportlisten von oder nach Buchenwald geführt wird. Wahrscheinlich tauschte er in Buchenwald seine Sachen mit einem anderen Häftling – eine Praxis, die zum Lageralltag im KZ gehörte, damit sich Familienangehörige bzw. Freunde nicht trennen mussten, denn eine solche Trennung verringerte ihre Überlebenschancen.
Insgesamt 718 Häftlinge des KZ Buchenwald wurden in das Außenlager HASAG Colditz überstellt. 38 von ihnen verloren im Lager ihr Leben. 63 Häftlinge wurden als Invaliden nach Buchenwald zurück überstellt. Bei zehn von ihnen lässt sich der Tod im Stammlager nachweisen. Die 617 Häftlinge, die in Colditz blieben, mussten am 14. April 1945 das Lager räumen.
Es waren aber etwa 1500 Häftlinge, die aus Colditz abmarschierten. Diese Zahl ergab sich, weil zwischen dem 4. und 6. April 1945 etwa 900 Häftlinge aus dem Buchenwalder Außenkommando „Reichsbahnausbesserungswerk“ (RAW) Jena in Colditz eingetroffen waren. Dieses Kommando war zwar kein „jüdisches Außenkommando“ wie Colditz, doch ein beachtlicher Teil der Häftlinge waren „Mischlinge 1. Grades“ – gemäß der NS-Rassenideologie also auch „Juden“.
Die Zustände im Colditzer Lager müssen sich nach Eintreffen dieses Transports noch einmal erheblich verschlechtert haben. Ausdruck dessen war auch der Umstand, dass die Leichen von 33 verstorbenen Häftlingen des Jenaer Transports tagelang im Werk lagen, bevor sie – ebenfalls an der Friedhofsmauer – beerdigt wurden. Am 13. April 1945 erfolgten die letzten Beerdigungen an diesem Ort. Die Toten des 14. April 1945 sollen dagegen im Lager zurückgelassen worden sein. Eine unbekannte Zahl an Häftlingen, die sich in der Nacht versteckt hatten, um so der Räumung zu entgehen, wurden bei einer Nachsuche durch die Wachmannschaften gefunden und erschossen. Eine weitere Gruppe von neun Häftlingen hatte dabei Glück. Nachdem auch sie aufgespürt wurden und schon zur Erschießung Aufstellung nahmen, begann der Angriff amerikanischer Truppen, der ihnen die Befreiung brachte.
Die polnischen Juden, welche die HASAG für sich beanspruchte, waren aber nicht die ersten Buchenwald-Häftlinge in Colditz. Zunächst wurden für die Umbauten des Werksgeländes Bauarbeiter gebraucht. Dazu wurden in Buchenwald unter ungarischen Juden Arbeitskräfte ausgesucht und unter der Führung deutscher „grüner“, also krimineller Häftlinge nach Colditz gebracht. Am 29. November 1944 trafen die ersten 100 KZ-Häftlinge in Colditz ein. Drei Tage später kamen die nächsten 50, am 6. Dezember 1944 150 weitere ungarische Juden nach Colditz. Sie wurden, wie im Vertrag festgehalten, im „Hochbau“ untergebracht. Zu ihren Aufgaben gehörte es, das Südwerk mit Stacheldraht einzuzäunen und Wachtürme aufzustellen, ebenso der Aushub einer Latrinengrube im Freien. Die im Werk vorhandenen Toiletten durften von den KZ-Häftlingen nicht benutzt werden. Bis zum Februar 1945 blieb die Belegung des Lagers relativ konstant, auch weil 61 arbeitsunfähige und kranke Häftlinge nach Buchenwald zurückgeschickt und durch 60 neue ersetzt wurden.
Etwa drei Wochen nach Beginn des Arbeitseinsatzes starb in Colditz der erste Häftling. Er und sieben weitere ungarische Juden, die bis zum 21. Februar 1945 starben, waren schon vor der Jahrhundertwende geboren und gehörten somit zu den Älteren unter den Gefangenen. Auch wenn die genauen Todesursachen für diese Fälle nicht überliefert sind, geben sie doch Auskunft über die Arbeits- und Lebensbedingungen im Lager, zu denen unter anderem Sonntags ein sogenanntes Hindernisrennen der Häftlinge gehörte. Dabei wurde während der von der SS zur Belustigung veranstalteten Rennen, auf die Häftlinge geschossen.
HASAG und SS waren personell eng verflochten, und es war nicht immer klar, wer eigentlich auf der Baustelle Regie führte. Das bekamen auch die Häftlinge zu spüren. Der ungarische Journalist Endre György war von Beginn an im Lager Colditz. Bei seinem Arbeitseinsatz in einer Colditzer Sandgrube erlebte er dies so: „Der Deutsche wusste nicht nur alles, er wusste auch alles besser. Abstoßend und unerträglich ist diese Eigenschaft. Die SS-Burschen, die mit unserer Bewachung betraut waren, mischten sich auch in die Arbeit ein. Sie wollten immer „leiten“. Dabei kümmerten sie sich nicht um die Anweisungen unseres Vorarbeiters. Sie wussten es besser. 'Warum fasst du die Schaufel so an, und nicht so. Wenn Du den Sand von der Schaufel wirfst, warum kratzt das so? Du musst das leiser machen.'“2
Trotz der chaotischen Umstände auf der Baustelle wurde bis Mitte Februar 1945 ein Stand erreicht, der es erlaubte, die in Tschenstochau abgebauten Maschinen nach Colditz zu bringen und aufzustellen. Zeitgleich traf am 21. Februar 1945 ein Transport mit weiteren 350 polnischen Juden in Colditz ein.
Das bedeutete nicht nur einen Baufortschritt, sondern schlagartig eine weitere Verschlechterung der Situation der Häftlinge im Lager. Untergebracht wurden die Neuen im obersten Stockwerk des umfunktionierten Hochbaus. Die Gesamtlebensmittelzuteilungen für das Lager mussten dadurch erhöht werden. Gemäß den in den KZ herrschenden „Gesetzen“ brachte dies aber keine Verbesserung für die Häftlinge, sondern führte zu neuen Verteilungskämpfen zwischen den rivalisierenden Häftlingsgruppen. Endre György berichtete: „Der Lagerälteste war ein ehemaliger Spelunkenwirt aus Berlin; einer der Blockältesten war ehemaliger Rausschmeißer aus demselben Milieu. Acht oder zehn Jahre lebten sie schon hier und alle Verwerflichkeit der 'Lagermoral' klebte an ihnen. Beispielgebend an niedriger Gesinnung, Egoismus und Raffgier wirkten sie wie Apostel der Leichenschändung. Sie stahlen den größten Teil der so schon dünnen Ration. Mit Hilfe eines haardünnen Drahtes teilten sie ein Margarinestückchen von 25 Gramm. Sie nahmen sich auch Marmelade und Salat. Wir erhielten jeweils nur einen Löffel davon zum Abendbrot. Ihr nicht vorhandenes Gewissen belastete es keineswegs, dass sie uns damit in Krankheit, Unterernährung und Tod trieben.“3
Tatsächlich griff der Tod weiter um sich: Der erste polnische Häftling starb schon in der ersten Woche nach der Ankunft in Colditz. Auch die Behandlung durch Wachpersonal und zivile Vorgesetzte verschärfte sich nach Ankunft der polnischen Juden weiter. Das zeigte sich im Fall von Tibor Makk, geboren am 14. September 1927 in Budapest. Niemand konnte den genauen Grund angeben, die einen sprachen von einem Lebensmitteldiebstahl, die anderen davon, dass Makk wegen Erschöpfung eine Pause machte. Jedenfalls fiel er einem SS-Mann auf, und alle im Südwerk beschäftigten KZ-Häftlinge mussten am 19. März 1945 antreten, um zu erfahren, wie mit „Dieben“ und „Arbeitsscheuen“ umgegangen wird. Nach Verkündung der Bestrafung wurde Makk unter der Leitung des SS-Mannes von anderen Häftlingen abgeführt. – Mit einer zu einer Bahre umfunktionierten Leiter kamen die Häftlinge einige Zeit später mit dem Erschossenen zurück ins Lager. Die Leiche wurde, wie fast alle Opfer des Außenlagers, an der Außenseite der Friedhofsmauer des evangelischen Friedhofs in Colditz begraben.
Auch polnische Überlebende des HASAG-Lagers in Colditz beschrieben Misshandlungen durch Aufsichtspersonal. Ihre Peiniger waren jene Mitarbeiter der HASAG, die sie schon aus Tschenstochau kannten. Zumeist schlugen diese Mitarbeiter Häftlinge, um sie zu schnellerem Arbeiten anzutreiben. Oder sie wurden Opfer der SS-Wachmannschaft. Szyja Kogutek, der als KZ-Häftling in Colditz war, sagte aus, dass sein Bruder Jakob durch einen Bajonettstich in den Bauch starb. Täter war in diesem Fall der SS-Kommandoführer. Der Nachweis dieses Mords in Colditz ist schwierig, da Jakob Kogutek nicht in den Transportlisten von oder nach Buchenwald geführt wird. Wahrscheinlich tauschte er in Buchenwald seine Sachen mit einem anderen Häftling – eine Praxis, die zum Lageralltag im KZ gehörte, damit sich Familienangehörige bzw. Freunde nicht trennen mussten, denn eine solche Trennung verringerte ihre Überlebenschancen.
Insgesamt 718 Häftlinge des KZ Buchenwald wurden in das Außenlager HASAG Colditz überstellt. 38 von ihnen verloren im Lager ihr Leben. 63 Häftlinge wurden als Invaliden nach Buchenwald zurück überstellt. Bei zehn von ihnen lässt sich der Tod im Stammlager nachweisen. Die 617 Häftlinge, die in Colditz blieben, mussten am 14. April 1945 das Lager räumen.
Es waren aber etwa 1500 Häftlinge, die aus Colditz abmarschierten. Diese Zahl ergab sich, weil zwischen dem 4. und 6. April 1945 etwa 900 Häftlinge aus dem Buchenwalder Außenkommando „Reichsbahnausbesserungswerk“ (RAW) Jena in Colditz eingetroffen waren. Dieses Kommando war zwar kein „jüdisches Außenkommando“ wie Colditz, doch ein beachtlicher Teil der Häftlinge waren „Mischlinge 1. Grades“ – gemäß der NS-Rassenideologie also auch „Juden“.
Die Zustände im Colditzer Lager müssen sich nach Eintreffen dieses Transports noch einmal erheblich verschlechtert haben. Ausdruck dessen war auch der Umstand, dass die Leichen von 33 verstorbenen Häftlingen des Jenaer Transports tagelang im Werk lagen, bevor sie – ebenfalls an der Friedhofsmauer – beerdigt wurden. Am 13. April 1945 erfolgten die letzten Beerdigungen an diesem Ort. Die Toten des 14. April 1945 sollen dagegen im Lager zurückgelassen worden sein. Eine unbekannte Zahl an Häftlingen, die sich in der Nacht versteckt hatten, um so der Räumung zu entgehen, wurden bei einer Nachsuche durch die Wachmannschaften gefunden und erschossen. Eine weitere Gruppe von neun Häftlingen hatte dabei Glück. Nachdem auch sie aufgespürt wurden und schon zur Erschießung Aufstellung nahmen, begann der Angriff amerikanischer Truppen, der ihnen die Befreiung brachte.
Der Todesmarsch nach Theresienstadt
Am Vormittag des 14. April 1945 war es der SS in letzter Minute gelungen, das Lager in Colditz zu räumen und die Häftlinge abzutransportieren. Ziel des Transports sollte das damalige Leitmeritz und Theresienstadt sein. Am ersten Tag marschierten die Häftlinge im offenen Gelände der Reichsstraße 176 bis zum Harthaer Kreuz. Schon während der ersten Etappe des Marsches gab es erste Tote unter den Häftlingen, die später in Hartha in einem Ehrenhain beigesetzt wurden.
Durch Hartha und Waldheim marschierte die Kolonne bis zu einer Wiese der Gemarkung Massanei. Dort erfolgte die erste Übernachtung. Als am Morgen des zweiten Marschtags dort einige Tote liegen blieben, wurden diese an einer Stelle beerdigt, die später als Müllhalde diente. Schon kurz nach dem Krieg war dort eine vier Meter hohe Abfallschicht aufgetragen.
Beim Marsch am 15. April 1945 von Massanei nach Nossen passierte die Häftlingskolonne unter anderem das Dorf Etzdorf, eine über mehrere Kilometer stetig ansteigende Strecke. Zurückbleibende Häftlinge, die nicht gleich von den am Ende der Kolonne marschierenden Wachleuten ermordet wurden, blieben, obwohl sie amtlichen Stellen übergeben wurden, verschwunden. In Nossen wurde die Kolonne im bereits geräumten Außenlager des KZ Flossenbürg untergebracht. Das Barackenlager selbst wurde, so wie man es vorgefunden hatte, am Morgen des 16. April 1945 verlassen. Es diente noch anderen KZ-Marschkolonnen als Zwischenstation und wurde bei Kriegsende abgebrannt.
Die Colditzer, Jenaer und nun auch einige Häftlinge, die am 14. April im Nossener Lager geblieben waren, marschierten durch den Zellwald und das Städtchen Siebenlehn an die Freiberger Mulde. Dem Flusslauf folgend, bewegte sich die Kolonne an diesem Tag bis nach Conradsdorf, wo sie an zwei Stellen Quartier machte. Unterwegs, kurz vor Kleinvoigtsberg, gelang es dem Lagerältesten des Jenaer Lagers und zwei seiner Vertrauten, zu fliehen. Ihre Angaben bestimmten maßgeblich die im Herbst 1945 durchgeführten polizeilichen Ermittlungen zum Marsch.
Am 17. April 1945 verließ die Kolonne das Tal der Freiberger Mulde und marschierte der Bobritzsch folgend immer weiter ins Erzgebirge. Zum 18. April übernachteten die Häftlinge in einer Scheune zwischen Nieder- und Oberbobritzsch. An diese Übernachtungen erinnerte sich Endre György: „Wir übernachteten in fürchterlichen Schuppen und auf verstaubten Scheunenböden. Es waren nicht mehr als Unterstellplätze, denn sie pressten eineinhalbtausend Menschen da hinein, wo auch zweihundert nur schwer Platz fanden. Von Schlaf war keine Rede. Die ganze Nacht beschäftigten wir uns damit, die Angriffe unserer Kameraden aus den anderen Gruppen abzuwehren, die im Schutz der Finsternis versuchten, unsere Decken zu erbeuten. Zu mörderischen Nahkämpfen wuchs dies aus und brachte verletzte Ohren und Augen, ausgekugelte Arme, ausgerenkte Finger und grelle Schmerzensschreie hervor.“4
Noch prägender war der Ablauf des täglichen Marschierens. Auch dazu schrieb Endre György: „Wer sich erschöpft auch nur einen Moment hinsetzte, bekam den Gnadenschuss von Herrn Zischke. […] Meister Zischke tötete so kaltblütig, wie andere atmen. Er schoss jemanden ins Genick. Danach zündete er sich mit eleganter Handbewegung eine Zigarette an oder trank ein rohes Ei aus, um seine körperliche Kondition zu stärken – noch besser töten zu können. Er tat dies wie ein Opernsänger, der vor dem Auftritt seine Stimmbänder pflegt.“5
Dieser „Meister“ wurde bei Kriegsende noch einmal in Colditz gesehen. Seitdem fehlt jede Spur.
Der Transport verlief weiter über Rehefeld-Zaunhaus, wo am 21. April 1945 während eines Schneesturms die heutige Grenze nach Tschechien überschritten wurde. Schließlich kamen die Überlebenden am 27. April in Theresienstadt an. Zuvor waren die nichtjüdischen Häftlinge in Leitmeritz abgetrennt worden. Insgesamt 377 der nach der Befreiung in Theresienstadt Registrierten gaben an, im Lager Colditz gewesen zu sein. Noch vor der Rückkehr in ihre Heimat starben noch einmal 16 der in Colditz eingesetzten Häftlinge an den Folgen des Todesmarsches.
Eine genaue Zahl der Opfer des Marsches lässt sich nicht feststellen, wird sich aber mindestens in der Größenordnung von etwa einem Drittel der Gesamtstärke der Häftlinge belaufen, wahrscheinlich sogar etwas darüber. Trotz Nachforschungen ab Herbst 1945 sind auch nicht alle Begräbnisorte von Opfern des Marsches bekannt geworden, ebenso wenig wie körperliche und seelische Schäden bei den Überlebenden, die am 9. Mai 1945 in Theresienstadt von der sowjetischen Armee befreit wurden. An diesem Tag endete der Zweite Weltkrieg in Europa und mit ihm die Existenz der deutschen Konzentrationslager.
Am Vormittag des 14. April 1945 war es der SS in letzter Minute gelungen, das Lager in Colditz zu räumen und die Häftlinge abzutransportieren. Ziel des Transports sollte das damalige Leitmeritz und Theresienstadt sein. Am ersten Tag marschierten die Häftlinge im offenen Gelände der Reichsstraße 176 bis zum Harthaer Kreuz. Schon während der ersten Etappe des Marsches gab es erste Tote unter den Häftlingen, die später in Hartha in einem Ehrenhain beigesetzt wurden.
Durch Hartha und Waldheim marschierte die Kolonne bis zu einer Wiese der Gemarkung Massanei. Dort erfolgte die erste Übernachtung. Als am Morgen des zweiten Marschtags dort einige Tote liegen blieben, wurden diese an einer Stelle beerdigt, die später als Müllhalde diente. Schon kurz nach dem Krieg war dort eine vier Meter hohe Abfallschicht aufgetragen.
Beim Marsch am 15. April 1945 von Massanei nach Nossen passierte die Häftlingskolonne unter anderem das Dorf Etzdorf, eine über mehrere Kilometer stetig ansteigende Strecke. Zurückbleibende Häftlinge, die nicht gleich von den am Ende der Kolonne marschierenden Wachleuten ermordet wurden, blieben, obwohl sie amtlichen Stellen übergeben wurden, verschwunden. In Nossen wurde die Kolonne im bereits geräumten Außenlager des KZ Flossenbürg untergebracht. Das Barackenlager selbst wurde, so wie man es vorgefunden hatte, am Morgen des 16. April 1945 verlassen. Es diente noch anderen KZ-Marschkolonnen als Zwischenstation und wurde bei Kriegsende abgebrannt.
Die Colditzer, Jenaer und nun auch einige Häftlinge, die am 14. April im Nossener Lager geblieben waren, marschierten durch den Zellwald und das Städtchen Siebenlehn an die Freiberger Mulde. Dem Flusslauf folgend, bewegte sich die Kolonne an diesem Tag bis nach Conradsdorf, wo sie an zwei Stellen Quartier machte. Unterwegs, kurz vor Kleinvoigtsberg, gelang es dem Lagerältesten des Jenaer Lagers und zwei seiner Vertrauten, zu fliehen. Ihre Angaben bestimmten maßgeblich die im Herbst 1945 durchgeführten polizeilichen Ermittlungen zum Marsch.
Am 17. April 1945 verließ die Kolonne das Tal der Freiberger Mulde und marschierte der Bobritzsch folgend immer weiter ins Erzgebirge. Zum 18. April übernachteten die Häftlinge in einer Scheune zwischen Nieder- und Oberbobritzsch. An diese Übernachtungen erinnerte sich Endre György: „Wir übernachteten in fürchterlichen Schuppen und auf verstaubten Scheunenböden. Es waren nicht mehr als Unterstellplätze, denn sie pressten eineinhalbtausend Menschen da hinein, wo auch zweihundert nur schwer Platz fanden. Von Schlaf war keine Rede. Die ganze Nacht beschäftigten wir uns damit, die Angriffe unserer Kameraden aus den anderen Gruppen abzuwehren, die im Schutz der Finsternis versuchten, unsere Decken zu erbeuten. Zu mörderischen Nahkämpfen wuchs dies aus und brachte verletzte Ohren und Augen, ausgekugelte Arme, ausgerenkte Finger und grelle Schmerzensschreie hervor.“4
Noch prägender war der Ablauf des täglichen Marschierens. Auch dazu schrieb Endre György: „Wer sich erschöpft auch nur einen Moment hinsetzte, bekam den Gnadenschuss von Herrn Zischke. […] Meister Zischke tötete so kaltblütig, wie andere atmen. Er schoss jemanden ins Genick. Danach zündete er sich mit eleganter Handbewegung eine Zigarette an oder trank ein rohes Ei aus, um seine körperliche Kondition zu stärken – noch besser töten zu können. Er tat dies wie ein Opernsänger, der vor dem Auftritt seine Stimmbänder pflegt.“5
Dieser „Meister“ wurde bei Kriegsende noch einmal in Colditz gesehen. Seitdem fehlt jede Spur.
Der Transport verlief weiter über Rehefeld-Zaunhaus, wo am 21. April 1945 während eines Schneesturms die heutige Grenze nach Tschechien überschritten wurde. Schließlich kamen die Überlebenden am 27. April in Theresienstadt an. Zuvor waren die nichtjüdischen Häftlinge in Leitmeritz abgetrennt worden. Insgesamt 377 der nach der Befreiung in Theresienstadt Registrierten gaben an, im Lager Colditz gewesen zu sein. Noch vor der Rückkehr in ihre Heimat starben noch einmal 16 der in Colditz eingesetzten Häftlinge an den Folgen des Todesmarsches.
Eine genaue Zahl der Opfer des Marsches lässt sich nicht feststellen, wird sich aber mindestens in der Größenordnung von etwa einem Drittel der Gesamtstärke der Häftlinge belaufen, wahrscheinlich sogar etwas darüber. Trotz Nachforschungen ab Herbst 1945 sind auch nicht alle Begräbnisorte von Opfern des Marsches bekannt geworden, ebenso wenig wie körperliche und seelische Schäden bei den Überlebenden, die am 9. Mai 1945 in Theresienstadt von der sowjetischen Armee befreit wurden. An diesem Tag endete der Zweite Weltkrieg in Europa und mit ihm die Existenz der deutschen Konzentrationslager.
Text: Wolfgang Heidrich, 2012
- Pachtvertrag zwischen der Steingutfabrik Colditz Aktiengesellschaft und der Hugo Schneider Aktiengesellschaft Leipzig vom 6. Nov. 1944 (Abschrift); Staatsarchiv Leipzig, Bestand 20912 – Steingutfabrik Colditz AG, Nr. 93.
- Endre György: „Das große Abenteuer – Geschichte einer Deportation. Die alles besser wissen“; Museum der Stadt Colditz.
- Endre György: „Das große Abenteuer – Geschichte einer Deportation, 'Richtung Colditz'“; Museum der Stadt Colditz.
- Endre György: „Das große Abenteuer – Geschichte einer Deportation. Die einzige Kartoffel…“; Museum der Stadt Colditz.
- Endre György: „Das große Abenteuer – Geschichte einer Deportation. Die einzige Kartoffel…“; Museum der Stadt Colditz.